Ich liege mit meiner Freundin auf dem Steinboden vor einem Pavillon in einem Park. Wir sind beide ein bisschen angetrunken, und gut drauf. Eigentlich sind alle gut drauf, denn es ist momentan ein Fest, in dem kleinen Dorf, in dem wir uns befinden. Wir warten auf ihren Bruder, der uns abholt, damit wir gemeinsam nach Hause gehen können. Warum also wird mir dieser Abend aus den ganz falschen Gründen nicht mehr aus dem Kopf gehen?
Es vergeht einige Zeit. Meine Freundin erzählt mir gerade etwas und ich nehme ein Pärchen, ein junger Mann und eine junge Frau ungefähr in unserem Alter, wahr, das an uns vorbei geht. Sie scheint sichtlich betrunken, denn sie taumelt etwas, er hingegen kann gerade gehen. Er stützt sie am Arm, wobei man eine Person, der man helfen will eher anders stützt, als mit einem Griff um den Arm… oder?
Mein Körper reagiert schneller als mein Kopf und ich habe die Worte „Hey, alles in Ordnung?“ schon im Mund. Doch mein Kopf schaltet sich dazwischen, beruhigt mich und irgendwie versichere ich mir selbst, dass die das schon schaffen werden. Klar, sie ist angetrunken, aber er ist ja bei ihr, ihr wird also schon geholfen. Ich lege meinen Kopf wieder zurück auf den Boden und höre meiner Freundin weiter zu. Sie hat anscheinend nicht wirklich etwas mitbekommen.
Wir schlagen weiterhin die Zeit mit irgendwelchen Quasselleien tot und schließlich kommen zwei Frauen an uns vorbei, sie sind älter, ich schätze sie auf Mitte 40. Sie leuchten uns mit ihren Handys an und fragen, ob alles in Ordnung ist. Wir bejahen, wir gehen ja auch gleich nach Hause. Sie fragen uns, ob wir eine junge blonde Frau hier haben vorbeigehen sehen. Meine Freundin reagiert nicht mehr wirklich, sie ist doch betrunkener als gedacht. „Nein, habe ich nicht.“, antworte ich. Die beiden Frauen gehen gerade weiter, da schnelle ich hoch und rufe: „Warten Sie!“ Ich erzähle ihnen, dass ich eine junge Frau zusammen mit einem anderen Typen gesehen habe. Eine der beiden Frauen fragt eine Frage, die mir bis jetzt nicht aus dem Kopf geht: „Aber es hat nicht so ausgesehen, als würde er etwas machen wollen, was sie nicht will, oder?“
Mir ist schlagartig schlecht und zwar nicht vom Alkohol. „Ich weiß nicht“, erwidere ich wahrheitsgemäß. Die Situation war zu schnell, als dass ich sie richtig hätte einschätzen können. „Das kann ich nicht einschätzen.“, sage ich deshalb. „Sie sind in die Richtung gegangen.“ Ich zeige den Weg vor uns entlang. Die Frauen bedanken sich und gehen. „Seht zu, dass ihr hier wegkommt und ins Licht.“, sagen sie noch.
Kurz darauf kommt der Bruder meiner Freundin und wir machen uns auf den Weg nach Hause. Wir gehen den gleichen Weg entlang, den das Pärchen (?) und die beiden Frauen gegangen sind. Nachdem ich ihm erzählt habe, was eben passiert ist, bleiben wir immer wieder stehen, lauschen und leuchten ins Gebüsch, ob wir irgendetwas entdecken können. Wir rufen „Hallo?“, doch erhalten keine Antwort. Wir finden weder die junge Frau, noch die beiden älteren Frauen. Ich fluche immer wieder vor mich hin. Schließlich gehen wir ohne Erfolg nach Hause. Einschlafen kann ich weniger gut.
Letztendlich weiß ich nicht, ob dieser jungen Frau wirklich etwas passiert ist. Vielleicht haben sowohl die beiden Frauen, als auch ich, die Situation falsch eingeschätzt. Aber was ich mir selbst vorhalte ist, dass ich die Situation hätte einschätzen können, wenn ich nachgefragt hätte. Hätte der Typ nämlich zum Beispiel aggressiv oder genervt geantwortet hätte ich sofort gewusst, dass ich hätte helfen müssen. Doch ich habe es nicht. Weil ich dachte, es ist schon alles in Ordnung. Zumindest dachte mein Kopf das. Mein Körper hat das Zwischenmenschliche der Situation unterbewusst wahrgenommen, mir sogar einen Impuls gesendet, aber ich habe ihn nicht ausgeführt.
Ich mache mir Vorwürfe, dass ich nicht so reagiert habe, wie es mein Körper wollte. In brenzligen Situation, egal ob diese für uns oder andere brenzlig sind, ist es wichtig, auf seine Instinkte und damit seinen Körper zu hören. Unterbewusst nehmen wir eine Menge wahr, die unserem Bewusstsein lange Zeit verborgen bleibt. Wie oft hattet ihr schon eine Situation, die ihr erst sehr viel später verstanden habt, aber in dem Moment aus unerklärlichen Gründen schon gewusst habt, dass etwas nicht stimmt?
Wenn ich jetzt im Nachhinein darüber nachdenke, hasse ich mich selbst. Warum habe ich nicht reagiert? Warum habe ich nicht die Polizei gerufen? Ich hätte sagen können, dass ich die beiden gesehen habe, es mich verunsichert hat und die Polizei doch bitte suchen soll. Ich hätte das tun können. Habe ich aber nicht. Weil ich dachte, es sei schon alles in Ordnung.
Ich schäme mich für meinen Fehler. Zu Recht.
Deswegen mein Appell an alle: passt auf andere Menschen auf. Vor allem Frauen und Personen, die körperlich schwächer sind als andere. Körperlich gesehen sind wir Frauen einfach im Nachteil. Das hat nichts mit Frauenhass zu tun, sondern es ist faktisch so! Achtet vor allem bei Partys oder sonstigen Veranstaltungen darauf, bei denen Alkohol im Spiel ist, ob stark alkoholisierte Personen wirklich in sicheren Händen sind!
Klar, ist in den meisten Fällen schon alles in Ordnung, aber in vielen auch nicht! Und diese Zahl ist wahrscheinlich sehr viel höher, als wir alle wissen.
Wir können nicht alle schlimmen Taten in dieser Welt verhindern, doch wir können zumindest die verhindern, die in unserer unmittelbaren Umgebung passieren.
Hört in solchen Situationen auf euer Bauchgefühl. Wenn euch euer Körper sagt, dass hier etwas falsch ist, dann ist das auch so! Wenn ihr den Drang verspürt euch einzuschalten, etwas zu sagen, dann tut das!
Sich zu blamieren, weil man dann doch eine Situation falsch eingeschätzt hat, ist das sehr viel kleinere Übel, wenn nicht sogar gar kein Übel, wenn man bedenkt, was auf der anderen Seite passieren könnte.