Es ist eigentlich schon viel zu spät, als dass es moralisch vertretbar wäre jetzt noch die YouTube-App zu öffnen, aber ich tue es trotzdem. Zu allem Überfluss gehe ich dann auch noch in die Kategorie „YouTube shorts“. Ihr wisst schon die Abteilung mit den kurzen Videos wie auf TikTok, die unsere Aufmerksamkeitsspanne noch mehr in den Abgrund reißen. Ich weiß, niemand ist in diesem Moment stolz auf mich, besonders ich nicht.
Der Algorithmus schlägt mir ein Video vor, dass ich mit meinen zwei noch wachen Gehirnzellen erstmal gar nicht verstehe. Es ist eine Interviewsituation. Ein junger Mann hält einer peinlich berührten jungen Frau ein improvisiertes Mikrofon ins Gesicht und fragt: „Würdest Du’s in Frage stellen, wenn ich dir sage: ich bin 1,95m groß?“ Die Frau guckt ihn verwirrt an und sagt: „Ich kann für mich sagen: ok, glaube ich nicht“ Mehr Zeit für eine Antwort bleibt nicht, das Mikro wird von dem jungen Mann wieder zu seinem eigenen Mund gerissen.
„Ok, wenn ich sage: ich bin schwarz. Würdest du das hinterfragen?“ Der Typ ist weiß. Ruck. Mikro zu der jungen Frau. Die junge Frau und ich sind jetzt zusammen verwirrt. Sie antwortet: „Ja“ Ruck. Mikro zurück. „Warum?“ – „Weil’s nicht stimmt.“ – „Aber wenn ich sage: ich bin eine Frau. Dann stimmt das…?“ Ruck. Mikro zu ihr. Stille. Ruck. Mikro zu ihm. „Weil die Frage ist, ob man wirklich sein biologisches Geschlecht ändern könnte. Weil wenn ich jetzt andere Hormone nehme und mir meine Geschlechtsteil abnehmen lasse, bin ich dann nicht eher ein kastrierter Mann als eine Frau?“
Das Video endet. Meine zwei Gehirnzellen und ich sind nun komplett verwirrt und ich begehe den nächsten Fehler und gehe in die Kommentarsektion. An dieser Stelle verabschieden sich meine beiden Gehirnzellen, denn sie haben auf die Scheiße absolut gar keinen Bock. „An die Schüler: identifiziert euch einfach als euren Lehrer und gebt euch in jedem Fach einfach eine 1“ lautet ein Kommentar.
Ich lasse hier etwas Platz, um euch von der Scheiße, die ihr gerade lesen musstet zu erholen… (ich meine den Kommentar, nicht meinen Blog! …hoffe ich)
…
Okay, hören wir auf mit Sticheleien und argumentieren wir wie erwachsene Menschen sachlich: Transsexualität oder auch Transgender gibt es. Das steht außer Frage. Auch wenn jemand vielleicht eine andere „Meinung“ hat, zu Fakten gibt es keine Meinung. Man kann das vielleicht gut oder schlecht finden, aber es ändert nichts an den Tatsachen. Den Fakten sind eure Meinung und Gefühle egal.
Mir geht es hier allerdings nicht darum, über Transsexualität zu diskutieren, denn genauso gut könnten wir darüber diskutieren, ob wir wirklich Sauerstoff zum Überleben brauchen (brauchen wir, 1000 Mal bewiesen, gibt etliche Studien, genauso wie über Transexualität).
Es geht mir um etwas sehr viel Simpleres, zumindest sollte man meinen, dass es simpel sein sollte, nämlich Respekt. Ich habe das Gefühl, dass wir seit wir das Internet verstärkt nutzen, verlernt haben, respektvoll zu sein. Die Anonymität im world wide web animiert uns dazu, den größten Rotz von uns zu geben, den wir niemals jemandem „in der echten Welt“ von Angesicht zu Angesicht sagen würden (s. Das interessiert mich nicht). Ich weiß, durch das Internet denken wir, dass uns alles betrifft, was wir dort sehen, aber dem ist nicht so.
Wenn eine fremde Person zu dir kommt und sagt: „Ich mag keine Erdbeeren.“ und du aber Erdbeeren liebst und drei Jahre in Folge den Preis für ‚Erdbeerliebhaber des Jahres‘ gewonnen hast, würdest du doch nicht zu der Person sagen: „Oh mein Gott, wie kannst du nur!? Ich hasse dich! Erdbeeren sind das Beste!“ Warum nicht? Ruck. Mikro zu mir. Das Feedback surrt in euren Ohren, weil ich keine Ahnung habe, wie man richtig interviewt. Weil es dein Leben tatsächlich zu 0,0 % beeinflusst. Also so wirklich gar nicht. Überhaupt nicht.
Und einfach exakt genauso verhält es sich mit der Identität, Sexualität, Hobbys etc. eines anderen Menschen. Zumindest eines fremden. Denn was interessiert es mich, was mit dem Mann dahinten los ist? Ganz ehrlich, solange der glücklich in seinem Leben ist und es sich nicht zur Aufgabe gemacht hat jeden Tag eine andere Person zu verletzen ist doch alles in Ordnung, oder nicht?
„Ich möchte aber nicht in einer Welt leben, in der jeder einfach so sein Geschlecht ändern kann, nur weil er da Bock drauf hat.“ Tust du nicht, werden wir wahrscheinlich auch nicht. Diese Aussage ist ziemlich unüberlegt. Denn ganz ehrlich, warum nicht? Wie cool wäre denn das, wenn wir alle einfach jeden Tag bestimmen könnten wer wir heute sind? Einfach Aussehen, Geschlecht, Persönlichkeit, Kleidung ändern. Aus Jux und Dollerei. Also abundzu gibt es bestimmt nichts Spaßigeres. Aber gut, vielleicht spricht da auch nur die Schauspielerin aus mir.
Es ist nur der Umgang miteinander, der von Respekt geprägt sein sollte. Jeder kann gerne in Ruhe denken, was er möchte und in seinem zu Hause sich so sehr über andere Lebensweisen aufregen, wie man möchte, aber Leute ganz ehrlich: habt ihr nichts Besseres zu tun?
Nicht jeder muss jeden akzeptieren und alles toll finden, was andere machen. Es ist vollkommen okay, dass ich es befremdlich finde, dass mein Kumpel seine Wohnung nie aufräumt und es dort total unordentlich ist, aber das muss ich ihm doch nicht sagen. Es ist doch nicht meine Wohnung und betrifft mich somit nicht. Ich kann nur für mich sagen, dass ich meine eigene Wohnung ordentlicher halte (aber auch nicht super ordentlich lol), da ich mich so wohlfühle. Klar, wenn mein Kumpel kommt und in meine Wohnung reinscheißt, dann betrifft es mich und ich habe einen Grund mich darüber aufzuregen, aber hm, glaube nicht, dass das passiert.
Vielleicht sollten wir alle mal einen Schritt von der Tastatur zurückgehen und uns fragen: 1. ist das gerade wirklich wichtig und gefragt von der anderen Person, was ich hier tippen möchte? und 2. ist das hier ein Umgang, den ich selbst auch erfahren möchte?
Wenn auch nur eine Frage davon mit Nein beantwortet werden kann, einfach aufhören zu tippen. Ist ok, dadurch stirbt niemand.
Lasst uns nicht unsere wichtigste Tugend vergessen: den Respekt voreinander.