Es ist Dienstag, der 12.07.2022, genau 09:34 Uhr, als ich mich etwas frage: ist Self Care wirklich Self Care?
Ich stehe in einem Drogeriemarkt vor einem Regal, in dem haufenweise Masken liegen, die mir helfen sollen die perfekte Gesichtshaut zu bekommen. Ich muss nur eben diese Masken in einer bestimmten Reihenfolge zu einer bestimmten Tages- und/oder Nachtzeit auftragen und wieder abwaschen. Ach so, na dann, wenn’s weiter nichts ist.
Ich habe schon tausend solcher Masken zu Hause, warum stehe ich hier also und frage mich, ob ich noch eine mehr mitnehmen soll? Ich habe die doch noch nie wirklich benutzt. Vielleicht mal an zwei, drei Abenden habe ich mir eine aufgetragen, ein Selfie an meine Freundinnen verschickt mit dem Titel „Heute ist Beauty! Heute ist Self Care!“. Oder einmal einen Freund gezwungen zusammen so eine Peel Off-Maske zu machen, einfach nur weil ich es witzig finde sich gegenseitig dieses Zeug wieder vom Gesicht zu ziehen.
Mittlerweile stehe ich schon viel zu lange vor diesem Regal. Ich merke, wie eine Frau hinter mir steht und etwas haben will, wo ich genau vorstehe. Es tut mir leid, sage ich in Gedanken, aber ich bin hier noch nicht fertig. Sie scheint meine telepathischen Kräfte wahrgenommen zu haben und geht ein paar Regale weiter.
Aber zurück: warum denke ich auf einmal, dass ich noch mehr dieser Masken brauche? Ich meine, ich habe genug und ich nutze sie gar nicht wirklich, alsooooo brauche ich sie auch nicht…? Wie idiotisch von dir das zu glauben, sagt eine Stimme in meinem Kopf, die sich aus jahrelanger Werbung zusammengesetzt hat, natürlich brauchst du das! Du willst dich doch um dich selbst kümmern, oder? Your body is a temple und so! Und wie sagt man immer so schön: die Haut sind die wichtigsten 2m^2 deines Lebens!
Total einleuchtend, aber… ich weiß doch, dass ich sie nicht benutze! Und meiner Haut geht es gut! Sie ist nicht perfekt rein, aber auch nicht pickelig oder fettet oder ausgetro-
Pssssccchhhhhhht!, die Stimme legt mir einen Zeigefinger auf die Lippen, das denkst du doch nur! Aber wer weiß besser, was du brauchst, als wir! Die Werbung! Wir zeigen dir Probleme auf, von denen du gar nicht wusstest, dass du sie hattest und liefern dir gleich eine Lösung mit! Ist das nicht toll? Selbstoptimierung ist so IN!
Ich setze mich vor das Regal. Diese Sache muss jetzt ausdiskutiert werden. Die Frau von eben wittert ihre Chance und kommt wieder. Triumphierend schnappt sie sich die Maske, die sie unbedingt braucht. Doch wer sagt ihr das gerade? Hat sie auch so eine Stimme wie ich? Als sie mich auf dem Boden bemerkt ist sie so irritiert und peinlich berührt, dass sie anscheinend den Drang verspürt mich zu grüßen. Ich grüße zurück und sie geht in Richtung Kasse.
Als Kind habe ich immer gedacht, dass Werbung das Ziel hat, dass diejenige, die sie sieht, sofort aufstehen und das Produkt kaufen soll. Wenn man das nicht tut, dann hat man gewonnen! Ich kam mir richtig stark vor, denn ich hatte NIE den Drang irgendeines dieser Produkte zu kaufen! Nicht ein einziges Mal bin ich direkt losgerannt und habe mein Geld rausgeschmissen nur weil ein paar blinkende Bilder und eine schöne Stimme es mir so aufgetragen haben! Ha! Ich war ein richtiges Superkind! Zugegeben, ich hatte auch einfach nicht annähernd genug Taschengeld, um mir all diese Dinge zu kaufen, und die meisten Werbungen, die ich sah, waren sowieso eher für meine Mutter… Die aber auch nie aufgesprungen ist, um etwas zu kaufen! Ha, wir waren beide komplett IMMUN! Die Werbung konnte uns gar nichts!
Mein halber Zusammenbruch mit 24 Jahren in einem Drogeriemarkt, sagt mir aber gerade etwas anderes. Nämlich, dass die Werbung genau das getan hat, was sie sollte: sie hat sich in meinem Unterbewusstsein festgesetzt und sagt mir nun, dass ich etwas kaufen und dann tun soll, von dem ich es eigentlich gar nicht brauche. Schlimmer! Ich denke, dass ich es mir selbst sage; dass ich es selbst brauche und will. Oh nein…
Ich stehe auf, fest entschlossen zur Kasse zu gehen ohne auch nur etwas annähernd unnötiges zu kaufen. Vor jedem anderen Regal stehe ich nun mehrere Minuten und versuche zu entschlüsseln, ob ich das nun wirklich brauche oder nicht. Beim Klopapier wird es etwas albern, aber lieber erstmal alle Dinge hinterfragen, bevor man sein hart erarbeitetes Geld irgendwo reinschmeißt.
An der Kasse sage ich etwas wütender „Danke!“ als ich es wollte und gehe gereizt aus dem Laden. Die Stimme ist erstmal verstummt, doch ich frage mich, wann sie wieder kommt…