17 Minuten dauert es, dank des GDL-Streiks, bis die nächste S-Bahn kommt und ich setze mich auf den Bahnsteig, hole meine Switch raus und bin ehrlich gesagt froh, dass ich noch etwas mein neues Spiel spielen kann. Mein Frieden ist nur temporär, denn ein Typ kommt vorbei und fragt mich, ob das eine Nintendo Switch in meinen Händen ist.

Perplex sage ich: „Ja…?“ woraufhin er sagt: „Cool, so eine hatte ich damals auch!“ Damals?, denke ich. Die ist doch noch nicht so alt. Ich lächel, bemerke, dass ich ja eine Maske trage und mein Gegenüber mein Lächeln gar nicht richtig sehen kann. Also lächel ich wohl so stark, und sehe dabei vermutlich grenzdebil aus, aber so kann er wenigstens sehen, dass sich meine Augen bewegen. „Was spielst du?“, fragt er. „Kitaria Fables“, antworte ich. „Ah, cool“, kommt von ihm und tut dabei so, als würde das Spiel kennen, aber jokes on you, das ist er seit einem Tag draußen und ich bin einfach nur ein Suchti. Ich lächel wieder mein wohl grenzdebiles Lächeln und er geht ein Stück weiter. Dachte, damit hat es sich mit dieser kleinen Unterhaltung. Nein.

Die Bahn kommt, ich packe meine Switch ein, stehe auf und der Typ kommt tatsächlich wieder und fragt: „Studierst du hier?“ Ich bin noch perplexer als zuvor. „Nein, ich hab gerade eine Schauspielausbildung hinter mir.“ Er macht ein Geräusch des Erstaunens, doch ich sage: „Aber ich bin nicht berühmt oder so.“ – „Bist doch aber bestimmt auf einem guten Weg, ich meine, gut aussehen tust du ja schon mal.“ Ich habe daraufhin original dieses Gesicht: 😑 Ach nee, wartet, original dieses Gesicht: 😷

Versteht mich nicht falsch. Ich beschwere mich nicht über ein Kompliment, aber die Art und Weise wie es gemacht wurde, war mir einfach total unangenehm. Und ich weiß nicht… so etwas direkt nach 30 Sekunden des Kennenlernens zu sagen? Und ich meine… er sieht ja nur die Hälfte meines Gesichts…? Da mein Gegenüber ein suspektes Auftreten hat und ziemlich herumdruckst beim Komplimente-machen, weiß ich somit nicht, ob es ernst gemeint ist, oder einfach nur gesagt wurde, um bei mir eine Reaktion zu provozieren. Ich wüsste keine Person, die angemessen damit umzugehen wüsste. Aber gut.

Die Bahn steht und ich benutze mit Absicht eine Tür, die er nicht benutzt und gehe auch mit Absicht einen Wagon weiter, um ihm zu suggerieren, dass ich nicht an einem Gespräch interessiert bin. Dieses indirekte Handeln wird entweder nicht richtig von ihm gedeutet oder schlichtweg ignoriert. Er geht tatsächlich durch zwei Wagons zu mir, setzt sich mir gegenüber und holt sein Handy raus und tippt darauf herum. Gleichgültig und in aller Ruhe hole ich meine Switch heraus und beginne wieder zu spielen. Immer noch hoffend, dass er es versteht, denn Gott weiß, dass ich leider zu höflich bin, um direkt zu sagen, was mich stört.

Irgendwann spricht er mich wieder an, stützt sich dabei auf seine Ellenbogen, die er auf seine Knie ablegt und lehnt sich nach vorn. Ich mache mich auf meinem Platz kleiner, sodass er mich nicht berührt und fühle mich durch seine Präsenz eingeengt. Er fragt mich wie eine Schauspielausbildung so ist, aber ich merke, dass er diese Dinge einfach nur so fragt, eigentlich interessiert ihn meine Antwort gar nicht. Ich mache mir einen Spaß daraus ihm so detalliert und trocken wie möglich verschiedene Schauspieltechniken zu beschreiben. Er gibt Antworten, die fast nichts mit meinen Aussagen zu tun haben, woran ich merke, dass er nicht versteht, was ich sage.

Einmal benutze ich das Wort „Unterbewusstsein“, welches er aufschnappt und sagt: „Ja, sowas habe ich mal bei TikTok gesehen.“ Leute, die mich oder diesen Blog kennen, wissen über meine Einstellung zu sozialen Medien Bescheid, aber mein Hass für TikTok ist nochmal auf einem ganz anderen Level. Ich kann es nicht ausstehen. „Da war so ein Hypnotiseur und hat die Leute hypnotisiert.“ – „Ah“, mache ich nur, „ich hab kein TikTok oder Instagram oder irgendwie sowas. Das… ähm, interessiert mich nicht.“ – „Ach, so, ja mich auch nicht so.“ Na klar.

Irgendwann fragt er: „Warum trägst du deine Haare so kurz?“ Ich bin am Maximum der Verwirrung angekommen und bringe nur diesen Gesichtsausdruck zustande: 🤨 Ach, Verzeihung, diesen natürlich: 😷 Zum Verständnis: ich habe keine wirklich kurzen Haare. Sie sind nur etwas länger als mein Kinn, wenn sie runterhängen. Ich würde sie eher als mittellang bezeichnen, je nach dem, was lang und/oder kurz ist. „Ja, warum nicht lang?“, führt er weiter aus, „Viele Männer mögen Frauen lieber mit langen Haaren.“ Hier ist der Punkt erreicht, an dem ich tatsächlich angepisst bin. Wie kann jemand die Dreistigkeit besitzen, zu einer fremden Person zu gehen und ihr*sein Aussehen einfach so zu beurteilen!?

Entnervt sage ich laut: „Ach ja, stimmt. Ich bin ja dazu da, Männern zu gefallen. Sorry, hatte ich ganz vergessen, dass ich nicht so rumlaufen darf, wie ich möchte.“ Ich kann fast schon sehen, wie er zurückrudert. „So meine ich das gar nicht, aber du würdest mega schön aussehen mit langen Haaren.“ ENT-SCHULDIGUNG!? Mittlerweile sieht mein Gesicht nur noch so aus: ????!!!?!?!!!?????? „Ja, bestimmt, glaub mir doch.“ Ich wende mich wieder meiner Switch zu.

Wir neigen uns dem Ende unserer Reise zu und er sagt: „Hast du facebook?“ Hast du mir gerade nicht zugehört? „Nein.“ Wir steigen aus, er geht neben mir. „Kann ich deine Nummer haben?“ – „Nein, danke.“ Er: „Och, bitte, sowas traut sich sonst kein Typ.“ Na, und? „Und dann muss ich das ja sofort belohnen, oder was?“ Er redet noch irgendetwas, aber ich bin so wütend, dass ich gar nicht mehr zuhöre. Schließlich tippe ich auf meinen Regenbogen-Pride-Pin und sage „Guck mal“. Er guckt, versteht und macht „oh“.

Und da ist es dann soweit. Er lässt seine Maske fallen, die so viele Typen tragen, solange sie denken, dass sie mit dir schlafen können. „Ja, gut, ich muss dann auch hier umsteigen.“, sagt er ganz ernst. „Liegt also nicht an mir dann, haha.“ Ich gucke ihn noch ein letztes Mal an und sage: „Doch, schon, ein bisschen.“ Dann gehe ich.

Natürlich hätte ich all das nicht über mich ergehen lassen müssen, hätte ich es zustande gebracht ein „Hey, ich finde cool, dass du mich ansprichst, aber ich bin nicht an einem Gespräch interessiert und möchte lieber auf meiner Switch spielen.“ zu sagen. Allerdings habe ich ein Problem, das viele Frauen haben: ich bin zu höflich. Durch Medien, Erziehung, die Gesellschaft habe ich gelernt höflich zu sein, niemanden wirklich zu verärgern, indem ich sie*ihn ablehne, denn niemand mag eine Frau mit einem großen Mund, oder? Nur leider bedeutet es schon einen großen Mund zu haben, wenn man jemanden ablehnt, auch aus dem plausiblen Grund, dass man sich unwohl fühlt. Aber nur, wenn man eben eine Frau ist. Lieber fühle ich mich unwohl und lasse die Situation über mich ergehen, alsdass ich mein Gegenüber verärgere und sie*er sich somit unwohl fühlt.

Als Frau muss ich, wenn ich einen (Arschloch)-Mann ablehne, damit rechnen, dass er explosionsartig reagiert. Egal ob er mich anschreit, beleidigt oder irgendwie anfässt. Etwas zur Selbstverteidigung dabei zu haben ist schon ein Standard für Frauen. Das ist aber nur eine Lösung für eine kurze Zeit und sie bekämpft nicht die Ursache des Problems: Männer, die von äußeren Einflüssen (auch hier Medien, Erziehung, die Gesellschaft) suggeriert bekommen, dass sie sich alles nehmen können, was sie möchten. Karriere, Haus, Hund und eben auch Frauen. Alles ein Level.

Wir sollten uns also eher darauf konzentrieren, den Menschen in dieser Gesellschaft beizubringen sich gegenseitig zu respektieren, Ablehnung anzunehmen und Entscheidungen anderer zu akzeptieren. Und allgemein… keine Ahnung… kein Arschloch zu sein vielleicht? Einfach nur so eine Idee.

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